Ernährungssouveränität steht für eine radikale Demokratisierung unseres Lebensmittel- und Agrarsystems
Viele denken bei dem Wort Ernährungssouveränität an das Ziel der vollständigen Selbstversorgung, die rosa Brille eines »small is beautiful« und einer bäuerlichen Idylle, andere an die wachsende, elitäre Bioszene. Doch worum geht es bei Ernährungssouveränität wirklich?
Jede noch so kleine Tomate wirft große Fragen auf: Ist sie kugelrund, knallrot oder gefleckt? Wie viel Chemie, wie viel Energie steckt in ihr, zu welcher Jahreszeit liegt sie auf unserem Teller? Wer hat sie angebaut – ein Migrant ohne Papiere und Dach über dem Kopf in Südspanien oder die Bauernmarktverkäuferin selbst? Aus welchem Saatgut ist sie gewachsen, gehört jemandem das Patent darauf? Wer besitzt das Land, auf dem sie gewachsen ist? Wer versorgt diejenigen und die Kinder derjenigen, die sie gießen, sie hunderte oder tausende von Kilometern transportierten; wer verkocht die Tomate? Die Antworten sagen viel darüber aus, wie unser Lebensmittel- und Agrarsystem gestaltet ist. Eine genauere Beschäftigung verdeutlicht allen, die es wissen wollen, schnell, dass unser Essen auf der Ausbeutung von Menschen hierzulande und im globalen Süden beruht, auf übermäßigem Ressourcenverbrauch und Naturzerstörung.
Und nun? Von jetzt an nur noch kleine, gefleckte Tomaten kaufen? In den Supermarktregalen so mancher hippen Stadtteile entwickelt sich mittlerweile ein entsprechendes Raritätensortiment in der Gemüseauslage. Sorgfältig ausgewählte Tomatenvielfalt, schön verpackt im 500-Gramm-Paket, nur 2,99 Euro.
Demokratie an der Supermarktkasse?
Die Zukunft der Landwirtschaft entscheidet sich durch den individuellen Einkauf, so das Versprechen von Agrarminister_innen und Biowerbung. Dass »bewusster« Konsum die einzige Form der Mitentscheidung sei, ist inzwischen fest in vielen Köpfen verankert. Doch wer meint, an der Supermarktkasse ihre oder seine Stimme abgeben zu können, tut dies vor allem im wahrsten Sinne des Wortes. Man reduziert sich auf ein reines Marktsubjekt – zumindest dann, wenn Konsum rein marktförmig gedacht ist: Projekte solidarischer Landwirtschaft gehen weit darüber hinaus, und auch gemeinsam organisierte Konsumboykotts können durchaus sinnvoll sein.
Der enorm gestiegene Anteil biologischer Lebensmittel und deren Integration in das Supermarktsystem sollten unterdessen kritisch betrachtet werden. Sie dokumentieren die Unterwerfung unter die Regeln der Konkurrenz und des Preisdrucks, wo diversifizierte, kleine Höfe keinen Platz haben. Das Supermarktsystem orientiert sich nicht an den Bedürfnissen der Menschen, sondern an den Gewinnaussichten der Märkte. Und während hierzulande die Müllberge aus fast frischen Lebensmitteln in den Himmel wachsen, leiden anderswo Millionen Menschen Hunger. Die »Konsumentendemokratie« schließt außerdem all jene von der Mitbestimmung aus, die nicht zahlungskräftig genug sind.
Ernährungssouveränität bedeutet also nicht, an der Supermarktkasse souverän selbst entscheiden zu können, was man kauft, sondern zielt im Kern auf eine umfassende Demokratisierung, die »die Menschen, die Lebensmittel erzeugen, verteilen und konsumieren, ins Zentrum der Nahrungsmittelsysteme stellt, nicht die Interessen der Märkte und der transnationalen Konzerne«, so die Deklaration des Nyéléni-Forums für Ernährungssouveränität 2007. (Siehe Kasten)
Der Begriff der Ernährungssouveränität wurde vor etwa 20 Jahren von der weltweiten Organisation von Kleinbäuer_innen La Vía Campesina geprägt, die rund 200 Millionen Mitglieder zählt. Sie entwickelte das Konzept als radikalen Gegenentwurf zum dominanten und neoliberal aufgeladenen Modell der »Ernährungssicherheit«.
Ernährungssouveränität versus Ernährungssicherheit
Im Kontext der Strukturanpassungsprogramme der 1980/90er Jahre und des Inkrafttretens des WTO-Abkommens über die Landwirtschaft 1995 wurden Staaten im globalen Süden gezwungen, Handelsschranken abzubauen. Als die subventionierten europäischen und US-amerikanischen Produkte zu Dumpingpreisen die geöffneten Märkte überschwemmten, verloren hunderttausende Bäuer_innen ihre Existenzgrundlage. Die Nahrungsmittelkrise mit rund einer Milliarde hungernder Menschen hat in den letzten Jahren verdeutlicht, dass diese Strategie nicht zu Ernährungssicherheit führte, sondern die Lage gravierend verschlimmert hat. Dennoch werden Freihandel und Produktivitätssteigerungen durch Agroindustrie, Gentechnik und Großgrundbesitz weltweit gefördert und Agrarsubventionen nach Hektargröße verteilt. Die Logik des »Wachsen oder Weichen« ist auch in Deutschland ungebrochen, allein in den letzten 20 Jahren hat sich hier die Zahl der Bauern und Bäuerinnen halbiert. Die Eliminierung der Milchquote am 1. April 2015 wird das Höfesterben weiter beschleunigen.
Für La Vía Campesina – übersetzt »der bäuerliche Weg« – steht fest, dass tatsächliche Ernährungssicherheit nur durch die Unterstützung statt durch die Zerstörung kleinbäuerlicher und agrarökologischer Lebens- und Produktionsweisen erreicht werden kann.
Die Meinung, bäuerliche Landwirtschaft könne die Welt nicht ernähren, ist auch unter Linken weit verbreitet. Kleinbäuerliches Wirtschaften gilt als Sinnbild für Rückständigkeit, während Großbetriebe mit Fortschritt und Produktivität assoziiert werden. Studien zeigen jedoch, dass große Farmen mit Monokulturen nicht unbedingt produktiver arbeiten als diversifizierte, kleine Höfe, die eine Vielzahl verschiedener Kulturen anbauen. Unter Berücksichtigung eingesetzter Produktionsfaktoren wie Energie, Dünger und Wasser schneiden kleine Betriebe meist sogar besser ab als große.
Dennoch darf ein allzu romantisches Bild von Kleinbäuerlichkeit die konstruktive Kritik nicht vernebeln. Kleinbäuerliche und auch Biolandwirtschaft sind nicht mehr unbedingt gleichbedeutend mit Kreislaufwirtschaft, in der die eingesetzten Inputs vom Hof selbst kommen und nicht extern zugeführt werden müssen – zum Beispiel durch Futtermittelimporte oder Düngerzukauf. Auch stimmt es, dass die Produktion in vielen Regionen noch gesteigert werden könnte und sollte – allerdings auf sozial gerechte und agrarökologische Weise.
Abgesehen davon ist es durchaus Realität, dass Frauen auf dem Land oft deutlich schlechter gestellt sind. Die La-Vía-Campesina-Kampagne für Geschlechtergerechtigkeit versucht, dem entgegenzutreten. Aus einigen Ecken wird außerdem aufgezeigt, dass Kleinbäuerlichkeit nicht unbedingt mit Kleinfamilie gleichzusetzen ist und beispielsweise auch kollektive Bewirtschaftungsformen dazuzuzählen sind.
Die Nyéléni-Bewegung
Ernährungssouveränität ist nicht nur aus Bewegungen entstanden, es ist auch ein Konzept in Bewegung. Während bei Ernährungssouveränität vor allem zu Beginn der Fokus auf der bäuerlichen Mitbestimmung lag und die nationale und internationale Ebene wegen der Kämpfe gegen WTO und Freihandel Hauptansatzpunkte waren, entwickelte sich das Konzept im Laufe der Jahre stets weiter. Vor allem das Nyéléni-Forum, bei dem 2007 etwa 500 Menschen aus 80 Ländern in Mali zusammentrafen, trug dazu bei, dass vermehrt auch städtische Bewegungen und Konsument_innen sich das Konzept aneigneten und in Folge die lokale Ebene weiter in den Vordergrund rückte.
Nyéléni ist der Name einer legendären malischen Bäuerin, die eine zentrale Figur für die Landwirtschaft in ihrer Region darstellte und verdeutlicht den explizit dekolonialen und feministischen Anspruch von Ernährungssouveränität. In Mali wurde deutlich, wie wichtig das Schließen von Allianzen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren sowie die Etablierung und Stärkung regional verankerter Bewegungen für Ernährungssouveränität ist – auch und gerade im Globalen Norden, wo die meisten der verhängnisvollen Agrar- und Handelspolitiken entschieden werden.
Im Jahr 2011 fand deshalb in Österreich ein zweites Nyéléni-Forum statt, bei dem 400 Delegierte aus 34 europäischen Ländern zusammenkamen und eine Nyéléni-Europe-Deklaration sowie einen Aktionsplan erarbeiteten. Seitdem entwickelten sich in vielen Ländern Europas regionale Foren – etwa in Kroatien, Großbritannien, den Niederlanden oder Österreich. Seit Mitte 2014 gibt es auch in Deutschland Bestrebungen, die Nyéléni-Bewegung zu verankern und 2016 ein Forum zu veranstalten.
Auszug aus der Nyéléni-Deklaration (2007)
»Ernährungssouveränität ist das Recht der Gemeinschaften auf gesunde und kulturell angepasste Nahrung, nachhaltig und unter Achtung der Umwelt hergestellt. Sie ist das Recht auf Schutz vor schädlicher Ernährung. Sie ist das Recht der Bevölkerung, ihre Ernährung und Landwirtschaft selbst zu bestimmen. (…) Sie ist eine Strategie des Widerstandes und der Zerschlagung derzeitiger Handels- und Produktionssysteme, die in den Händen multinationaler Konzerne liegen. (…) Sie garantiert, dass die Nutzungsrechte auf Land, auf Wälder, Wasser, Saatgut, Vieh und Biodiversität in den Händen jener liegen, die das Essen erzeugen. Ernährungssouveränität bildet und stützt neue soziale Beziehungen ohne Unterdrückung und Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, Völkern, ethnischen Gruppen, sozialen Klassen und Generationen.«